Schnipsel 2: Justus Wertmüllers konstruktiver Corona-Vorschlag
Wenn sich ein Ideologiekritiker an die Stelle des Souveräns phantasiert, wird es prompt peinlich.
Die Zeitschrift Bahamas hat mit ihren Artikeln zumindest partiell im Vergleich zu magazinredaktion.tk, Gruppe Z etc. beim Thema Corona durchaus die bessere Figur gemacht. Die bessere Figur ist jedoch nicht immer auch die gute, und da wären wir bei Justus Wertmüller und der Bahamas Nr. 87 (Frühjahr 2021). Im Zuge seiner Kritik am coronabedingten Lockdown schreibt er:
Es sei zu wenig medizinisches Fachpersonal vorhanden, um höhere Kapazitäten als die behaupteten vorzuhalten, sagt man, aber keiner hat je über die Mobilisierung von z.B. Medizinstudenten und Krankenpflegeauszubildenden nachgedacht, die nach entsprechenden Vorbereitungskursen zur Entlastung des eigentlichen Fachpersonals hätten eingesetzt werden können.
Die “Gruppe Z”1 war bereits vorher auf die Idee gekommen, man hätte doch statt einen Lockdown zu verkünden, einfach die Zahl der Intensivbetten erhöhen können2, wobei es deren ideologiekritischem Röntgenblick aber entgangen war, dass man dazu auch Personal gebraucht hätte - und bereits eine Ausbildung zur Krankenpflege dauert drei Jahre!
Wertmüller ist hier durchaus intelligenter, wenn er den Fokus aufs Personal legt - aber: verrichtet denn das “eigentliche Fachpersonal” tatsächlich Aufgaben, die von Studenten oder Auszubildenden übernommen werden könnten? Wenn nicht, dann wäre Wertmüllers Vorschlag von vornherein hinfällig - und der Umstand, dass er hier keinerlei Referenz auf irgendeine Publikation bringt, die seine Idee stützen könnte, verweist schon darauf, dass es sich hier um ein schlichtes Hirngespinst handelt.
Wollte man seinen Vorschlag gleichwohl weiterspinnen, so ergäben sich etwa folgende Fragen: gibt es denn überhaupt genügend fortgeschrittene Azubis und Studenten (denn Erstsemester wird man wohl nicht auf Patienten loslassen wollen)? Hätte man schnell genug solche “Vorbereitungskurse” konzipieren können? Hätte man entsprechendes Lehrpersonal gehabt, und wie lange hätten diese Kurse gedauert?
Und wären auch alle diese Probleme gelöst worden, so hätte man doch eines noch gehabt: wie bekommt man denn diese Azubis und Studenten in die Kurse und schließlich an die Krankenbetten? Einige hätten sicher sofort helfen wollen, aber genügend viele? Wohl kaum. Genügend Zeit, um mit Anreizen (Bonuspunkte, Seminarscheine, was immer) zu experimentieren, wäre nicht gewesen, sonst wäre man ja wieder bei der Notwendigkeit eines Lockdown gelandet. Also bliebe nur - die Zwangsverpflichtung! Man kann sich die Empörung vorstellen, die sicher auch die Bahamas, sicher auch Herr Wertmüller an den Tag gelegt hätte, wären Kranke von unzureichend ausgebildetem, zwangsverpflichtetem Personal gepflegt worden.
Justus Wertmüller ist nicht dumm, das Ganze macht daher eher den Eindruck, dass er sein eigenes Argument nicht ernst nimmt, dass es hier eher eine Spielmarke, ein Lückenfüller ist.3 Bemerkenswert ist aber vor allem, dass hier ein Bahamas-”Urgestein” sich als der bessere Politiker geriert: etwas, was die Bahamas bei anderen oft und zu Recht kritisiert hat.
Dieser Text als PDF: https://raw.githubusercontent.com/FWvJunzt/kritik/master/Corona/Wertm-Corona-Vorschlag.pdf
Siehe Der ultimative Corona-Guide unter Punkt 13.
Eine Erhöhung der Anzahl der Intensivbetten ist übrigens durchaus Thema gewesen, siehe z.B. dieses Interview, speziell die dort gestellte Frage “Was halten Sie von der These: In der Coronapandemie würden mehr Intensivbetten mit ausreichendem Personal weniger Einschränkungen des öffentlichen Lebens ermöglichen?”